26.5.2023 | von Felix Rohrbeck und Uwe Jean Heuser (ZEIT)
Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit ZEIT Online entstanden.
Frau Lemke, in unserer Arbeit stoßen wir regelmäßig auf Greenwashing. Wir würden ihnen gerne drei Beispiele nennen – und Sie sagen uns, wie sehr Sie das jeweils ärgert.
Wenn ich das kommentieren soll, gehe ich davon aus, dass die Fakten gesichert sind.
Die haben wir recherchiert. Erstes Beispiel: Sie kaufen einen Rucksack von Hersteller Got Bag, der in der Vergangenheit als zu 100 Prozent aus Meeresplastik beworben wurde. Dann stellt sich heraus, dass es nicht einmal 60 Prozent sind.
Da würde ich mich, diplomatisch ausgedrückt, verklappst fühlen.
Zweites Beispiel: Der Mineralölkonzern Shell kommuniziert als Ziel, seine Emissionen bis 2030 halbieren zu wollen. Die Emissionen, die beim Verbrennen des Sprits entstehen, werden dabei aber ausgeklammert. Rechnet man den Spritverbrauch mit, handelt es sich bei dem 50-Prozent-Ziel eigentlich gerade mal um ein 2,5-Prozent-Ziel.
Mag sein, dass das nach den Bilanzierungsregeln alles korrekt ist, da es sich um zwei getrennte Bereiche handelt. Aber das verschleiert natürlich den Blick auf das eigentliche Problem, nämlich die CO2-Belastung durch fossile Kraftstoffe. Und ich finde es im Vergleich zu dem anderen Beispiel noch ärgerlicher, weil der Spritverbrauch eines großen Mineralölkonzerns auf die Umwelt viel größere Auswirkungen hat als ein Rucksack. Insofern hat das andere Implikationen.

Drittes Beispiel: Zalando, der größte Online-Modehändler Europas, hat Klimaneutralität versprochen. Tatsächlich aber werden viele seiner Retouren kreuz und quer durch Europa geschickt, teils mehrere tausend Kilometer weit.
Ich glaube, dass es viel zu viele Retouren gibt. Von dem Ausmaß dieses Hin-und-Her-Geschickes von Produkten müssen wir unbedingt herunterkommen. Das kann nicht gut für das Klima sein und sollte auch nicht so beworben werden. Leider gibt es für solche Begriffe und Labels bisher keine ausreichend klaren wissenschaftlichen Kriterien.
Im schlimmsten Fall kann das dazu führen, dass selbst Menschen mit den besten Absichten nicht mehr durchblicken – und irgendwann entnervt aufgeben.
Ich habe in meinem persönlichen Umfeld auch viele solcher Irritationen und Frusterlebnisse mitbekommen. Das ist ein Problem. Trotzdem habe ich noch niemanden getroffen, der deshalb komplett aufgegeben hätte. Das wäre auch falsch. Aber Fakt ist: Wir erleben seit einiger Zeit eine regelrechte Flut an Greenwashing. Es gibt massive Versuche, die eigenen Gewinne zu steigern, indem mit fragwürdigen Umweltversprechen geworben wird.
» Wir erleben seit einiger Zeit eine regelrechte Flut an Greenwashing.«
Steffi Lemke, Bundesumweltministerin
Glauben Sie denn überhaupt, dass die vielen Verbraucherinnen und Verbraucher, die nachhaltiger konsumieren wollen, wirklich etwas verändern können?
In der Summe haben sie einen großen Einfluss und können durch ihre Konsumentscheidungen Macht ausüben. Egal ob CO2, biologische Vielfalt oder Plastikverschmutzung – es ist gut, dass diese Themen immer mehr Aufmerksamkeit erfahren und es bei vielen Menschen den Wunsch gibt, selbst etwas zu verändern. Dafür erwarten sie zu Recht klare Handlungsempfehlungen von Politik und Wirtschaft.
In der Debatte um die Macht oder Ohnmacht von Verbraucherinnen und Verbrauchern gibt es zwei Lager, die ganz unterschiedlich argumentieren. Die einen sagen: Wenn jeder bei sich anfängt, ist viel gewonnen. Die anderen sagen, das lenke nur davon ab, dass die Politik Gesetze machen muss, damit wirklich etwas geschieht. Wo stehen Sie in der Debatte?
Da gibt es kein Entweder-oder. Ich bin gegen eine Überbetonung des persönlichen Einkaufverhaltens. Wir dürfen nicht die ganze Last auf den Einzelnen abwälzen. Die Politik muss Regeln und Standards setzen, die dann von der Wirtschaft umgesetzt werden. Hier liegt der Kern der Verantwortung. Trotzdem ist es sinnvoll, wenn Unternehmen auch aufgrund des Drucks der Verbraucherinnen und Verbraucher mit gutem Beispiel vorangehen und den Wandel vorantreiben. Gerade diese Unternehmen dürfen nicht durch Greenwashing anderer Unternehmen beeinträchtigt werden. Wir müssen sie schützen.
Sie sind als Ministerin für den Umwelt- und Verbraucherschutz ja genau dafür zuständig. Warum schützen Sie uns nicht besser vor Greenwashing?
Wir erleben eine ziemlich rasante Entwicklung. Noch vor wenigen Jahren hat kaum ein Unternehmen mit Umweltversprechen wie „klimaneutral“ geworben. Das hat sich geändert. Und das zeigt ja auch, welchen Einfluss die Verbraucherinnen und Verbraucher tatsächlich haben. Gerade wenn sehr viel mehr Menschen mehr umweltfreundliche Produkte verlangen, gibt es auch mehr Betrugsversuche. Da muss Politik tätig werden. Und das passiert auch, zum Beispiel auf EU-Ebene mit der Green Claims Directive und der Verschärfung des Wettbewerbsrechts. Das sind Richtlinien, mit denen wir Greenwashing definitiv eindämmen werden.
»Ich bin gegen eine Überbetonung des persönlichen Einkaufverhaltens. Wir dürfen nicht die ganze Last auf den Einzelnen abwälzen.«
Steffi Lemke, Bundesumweltministerin
Wie soll das funktionieren?
Die Richtlinie Green Claims wird klare Mindestanforderungen an Siegel und Begriffe festlegen. Wer künftig zum Beispiel ein Produkt als kompostierbar bewerben will, muss dies spezifizieren – „kompostierbar, innerhalb von 60 Tagen“ – und klarstellen, auf welcher wissenschaftlichen Grundlage diese Aussage beruht.
Und wer soll das überprüfen?
Unabhängige Zertifizierungsstellen – „Verifizierer“ genannt, die ökologische Werbebotschaften künftig vorab prüfen und genehmigen müssen. Jeder Mitgliedstaat wird zudem eine Behörde für die Überwachung der Einhaltung benennen oder neu etablieren müssen. „Competent authority“ nennt das die EU-Kommission.
Das heißt, dass wirklich jede Umweltaussage eines Unternehmens künftig von einer eigenen Zertifizierungsstelle geprüft werden wird? Schwer vorstellbar.
Wenn die Unternehmen ein Siegel oder bestimmte Begriffe verwenden wollen, wird das so sein. Diese Aussagen müssen mit wissenschaftlichen Fakten belegt werden. Und dann gibt es noch Verschärfungen im Wettbewerbsrecht der EU. Über das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb ist es übrigens für Unternehmen und für Verbraucherschutzverbände schon jetzt möglich, gegen falsche und irreführende Werbung vorzugehen. Und diese Möglichkeit verbessern wir jetzt für die Verbraucherschützer. Auch damit bekämpfen wir Greenwashing, und diese Verschärfung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb wird dazu führen, dass bestimmte Werbung mit „öko“ oder „nachhaltig“ aussortiert wird, wenn sie nicht auf einer anerkannten Umweltleistung beruhen.
Bis die EU-Richtlinie in Deutschland in Kraft tritt, wird es nach Einschätzung von Experten noch einige Jahre dauern. Könnten Sie, auch um Tatkraft zu signalisieren, nicht schon vorher aktiv werden? Zwei Vorschläge dazu: Erstens Greenwashing unter hohe Strafen stellen und zweitens Buzz-Wörter wie „klimapositiv“ verbieten.
Auch wenn es mir in erster Linie nicht um einen Eindruck von Tatkraft geht, sondern um reale Veränderung in unserer Gesetzgebung zum Schutz der Umwelt, sind das beides Vorschläge, denen ich etwas abgewinnen kann. Wir brauchen in der gesamten EU klare Regeln, die die Verbraucherinnen und Verbraucher vor Greenwashing schützen. Ich glaube aber auch, dass solche Regeln den gesunden Menschenverstand niemals ersetzen können.
Was meinen Sie damit?
Ich weiß zum Beispiel, dass ich hier in Deutschland jederzeit den Wasserhahn aufdrehen und Wasser daraus trinken kann. Deshalb schlage ich persönlich mich gar nicht mit der Frage herum, ob ich besser Mehrweg- oder Einwegflaschen kaufen soll, weil ich zu Hause schlichtweg kein Mineralwasser trinke. Natürlich muss das jede und jeder für sich selbst entscheiden. Aber es gibt etliche Beispiele im Alltag, bei denen man schnell erkennt, dass man ohne eigenen Komfortverlust einen Gewinn für die Umwelt erzielen kann.
»Es gibt etliche Beispiele im Alltag, bei denen man schnell erkennt, dass man ohne eigenen Komfortverlust einen Gewinn für die Umwelt erzielen kann.«
Steffi Lemke, Bundesumweltministerin
Was wäre das denn noch, außer Leitungswasser trinken?
Wir wissen, dass Obst und Gemüse aus einheimischen Regionen besser für die Umwelt sind als Importware, die oft tausende Kilometer zurückgelegt hat. Oder dass es gesünder und umweltverträglicher ist, kurze Wege mit dem Fahrrad statt mit dem Auto zurückzulegen. Jeder wird in seinem Alltag solche Dinge finden, dafür braucht es keine Gesetze oder Siegel.
Also müssen wir die Menschen doch mehr bei ihrer Eigenverantwortung packen? Fragt man beispielsweise die Autokonzerne, warum sie so riesige, schwere und schnelle Autos bauen, dann lautet die Antwort unisono: weil die Leute es eben so wollen.
Ich würde dieses Argument hinterfragen. Solche Wünsche entstehen ja nicht aus heiterem Himmel. Sie werden auch durch Werbung und Marketing der Hersteller erzeugt und durch deren Angebot dahin gelenkt. Da spielt Greenwashing ebenfalls eine Rolle, wenn zum Beispiel suggeriert wird, dass auch schwere SUVs super-umweltfreundlich sind und wir einfach so weiter machen können wie bisher. Generell glaube ich, dass es die Aufgabe von Politik ist, zunächst einmal belastbare Informationen für individuelle Entscheidungen zur Verfügung zu stellen. Wir können auch Handlungsempfehlungen geben und an die Verantwortung der Marktteilnehmer appellieren. Wenn das alles nichts nützt oder nicht schnell genug geht, braucht es Gesetze.
Sie sind in der DDR aufgewachsen, wo Ökologie kleingeschrieben wurde. Wie wurden Sie dort eigentlich zur Umweltschützerin?
Ich bin von meiner Mutter zur Naturverbundenheit erzogen worden, weil sie als Biologielehrerin mit mir und meinen Geschwistern viel draußen war, vor allem an der Mulde und der Elbe. Durch die Braunkohle und eine äußerst intensive Landwirtschaft waren das damals zwei der verschmutztesten Flüsse in ganz Europa. Es prägt, wenn Sie von Kindesbeinen an mit stinkenden Flüssen voller Schaumberge konfrontiert sind und später erfahren, wie Informationen darüber unterdrückt wurden. Konsumgüter haben in der politischen Debatte damals kaum eine Rolle gespielt. Vielleicht war das auch noch nicht so akut. Mein Eindruck ist, dass die ältere Generation in Ost und West viel bewusster mit Konsumgütern umgegangen ist, als wir das später in der Überfluss- und Wegwerfgesellschaft erlebt haben.
Heute setzen sie sich für ein Recht auf Reparatur ein und verpflichten Restaurants und Cafés, auch Mehrwegverpackungen anzubieten. Auf was müssen wir uns noch einstellen?
Ich glaube, dass wir die Hersteller in vielen Bereichen stärker in die Verantwortung nehmen müssen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Einwegkunststoff-Fonds, den wir zum 1. Januar nächsten Jahres einführen werden. Wer Wegwerf-Verpackungen aus Plastik in den Markt bringt, muss dann eine Abgabe zahlen. Sie kommt den Kommunen zugute, die sich ja um den ganzen Müll kümmern müssen. Dieses Beispiel, wie man die Hersteller stärker in die Pflicht nehmen kann, lässt sich sicher auch auf weitere Bereiche übertragen.
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