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Dieser Arikel ist in Zusammenarbeit mit dem SPIEGEL entstanden.

Um drei Sonnencremes für das Gesicht soll es in dieser Folge gehen, erklärt Inken Rott ihren Zuschauern. Die YouTuberin will die Cremes in verschiedenen Kategorien bewerten: Preis, Geruch und Inhaltsstoffe. So weit, so erwartbar. Dann aber dreht sie die pastellrosa Tube der Marke “V.Sun” um und betrachtet die Rückseite. Was Rott dort sieht, scheint selbst die erfahrene Produkttesterin stutzig zu machen. “Hier hinten ist noch so ein Logo drauf, ähm…”, sie macht eine Pause und sagt dann ungläubig, “…korallenfreundlich ist die Sonnencreme auch.”

V.Sun ist derzeit ein Marketinghype. Auf Instagram präsentieren zahlreiche Influencerinnen die Sonnencreme in ihren Videos. Doch was hat es mit dem Label “korallenfreundlich” auf sich? Heißt das etwa, dass man mit herkömmlicher Sonnencreme den Korallenriffen schadet und für den nächsten Badeurlaub lieber eine Creme wie die V.Sun einpacken sollte? Oder ist das bloß ein Trick, mit dem umweltbewusste Verbraucher in die Irre geführt werden sollen? Diesen Fragen ist Flip gemeinsam mit dem SPIEGEL nachgegangen.

Das Ergebnis ist paradox – und führt mitten hinein in eine Welt, in der wissenschaftlich nur wenig bewiesen ist. Ein kleiner Inselstaat im Pazifik ist dennoch mit einem Gesetz gegen Sonnencreme vorangeprescht, das die heimischen Korallenriffe schützen soll. Die Recherchen von SPIEGEL und Flip aber zeigen: Ausgerechnet die “korallenfreundliche” V.Sun verstößt gegen das Korallenschutzgesetz.

Wie kann das sein?

Auf seiner Website verspricht V.Sun, dass es nichts verwendet, was Korallen schädigt. Screenshot: V.Sun

Die Geschichte der korallenfreundlichen Sonnencreme beginnt fernab der Korallenriffe im baden-württembergischen Heidelberg. Hier gründet die Unternehmerin Anja Bettin V.Sun März 2020.​​ Interviews gibt sie nur selten. Sie sei aber, so heißt es in einem Porträt des Magazins “Twelve” der Werbeagentur Serviceplan, eine “leidenschaftliche Marken- und Produktentwicklerin”. In der Tat: Bettin scheint umtriebig: Als Geschäftsführerin der “Angel Drink GmbH” verkaufte sie “die ersten Bio-zertifizierten Energy-Fruchtsäfte” in den Geschmacksrichtungen Granatapfel und Schwarze Johannisbeere. Sie gründete “Venya”, ein Unternehmen, das Hautpflege mit “nachhaltiger Healthy Aging-Wirkung” verkauft. Mit ihrer Agentur “Philosophy Brands” entwickelt sie auch für andere Unternehmen “individuelle Branding-Strategien”.

Und dann ist da auch noch “Nuwena”, ein Hersteller “von Körperpflegeprodukten mit außergewöhnlichen und verrückten Düften”. Bettin hat ihn 2015 gemeinsam mit der erfolgreichen YouTuberin Bianca Claßen, besser bekannt als “Bibi”, ins Leben gerufen. Das erste Produkt, ein Duschschaum namens Bilou (kurz für “Bibi loves you”) in den Ausführungen “Tasty Donut” und “Creamy Mandarin”, war innerhalb von nur zwei Tagen bei der Drogeriekette dm komplett ausverkauft. “Bilou ist eine wahre Goldgrube!”, berichtete die “Bravo”. Für diesen Marketingerfolg nahm die Plattform Online Marketing Rockstars Bettin 2017 sogar in die sogenannte “Rockstars Fifty”-Liste auf. Bettin, heißt es dort, sei der “Kopf hinter dem unglaublichen Erfolg von Bilou” und eine “Markenbildnerin der neuen Generation”.

Nun also korallenfreundliche Sonnencreme. Die V.Sun, eine “Premium Suncare”, soll zuverlässigen Sonnenschutz mit “verantwortungsvollen Inhaltsstoffen” verbinden. Eine Packung mit 75 Millilitern kostet knapp 15 Euro. Dafür bekommt man eine Sonnencreme, die optisch mit ihren pastellfarbenen Tuben beeindruckt und, worauf V.Sun auf seiner Website hinweist, von der Ex-Bachelorette Monica Meier-Ivancan in der “Gala” empfohlen wurde. Und den Korallen soll sie eben auch helfen: Für die Creme wurden laut V.Sun keine Inhaltsstoffe verwendet, die “das Wachstum der Korallen beeinträchtigen”. Man verzichte zum Beispiel auf Nanopartikel, Mikroplastik und den UV-Filter Octocrylen und orientiere sich “am neuesten Stand der Wissenschaft”. Außerdem spende man einen Teil seiner Einnahmen an Organisationen, die Korallenriffe schützen und wiederherstellen wollen.

Schadet Sonnencreme den Korallen überhaupt?

Tatsächlich sind Korallenriffe jeden Schutz wert, das bezweifelt niemand. Sie gehören zu den artenreichsten Ökosystemen der Welt: Schätzungsweise ein Viertel aller Fische und wirbelloser Meerestiere lebt in den Riffen. Doch Wasserverschmutzung, Überfischung und der Klimawandel führen dazu, dass immer mehr Korallen sterben. Ein Drittel der Korallenriffe ist bereits zerstört. Wissenschaftler gehen sogar davon aus, dass sich 99 Prozent der Riffe bei einer Erwärmung von zwei Grad nicht von den Folgen des Klimawandels erholen werden. Das Korallensterben ist also ohne Frage ein großes Problem. Auch landet jede Menge Sonnencreme im Meer. Bis zu 14.000 Tonnen im Jahr, schätzt die International Coral Reef Initiative (ICRI).

Die offene Frage aber ist: Tut man den Korallen wirklich etwas Gutes, wenn man statt herkömmlicher Sonnencreme V.Sun kauft? Das Unternehmen selbst ist davon überzeugt und hat sogar eine Studie durchführen lassen, die das belegen soll. Eine ökotoxikologische Untersuchung, so teilt man mit, habe ergeben, dass die Sonnencreme „nicht schädlich für Korallen ist.“

Durchgeführt wurde diese Untersuchung vom französischen Unternehmen HelioScience, das laut seiner Website darauf spezialisiert ist, Sonnenschutzprodukte zu testen und zu bewerten. Ein Korallentest, erklärt das Unternehmen, koste 3450 Euro. Außerdem schickt es auf Anfrage mehrere Dokumente zum Testverfahren. Im vorliegenden Zertifikat von HelioScience heißt es tatsächlich: Die V.Sun sei „nicht ökotoxisch“ für die getesteten Organismen. Nach den Kriterien von HelioScience darf V.Sun seine Sonnencreme deshalb „reef-tested“ labeln. Mehrere Experten, denen SPIEGEL und „Flip“ die Dokumente zum Testverfahren vorgelegt haben, äußern jedoch Zweifel daran, wie aussagekräftig die Untersuchung von HelioScience ist.

Wissenschaftler:innen sind skeptisch

Ein Grund: HelioScience hat die V.Sun-Sonnencreme nur an einer einzigen Steinkorallenart getestet. „Das hat mit einem ganzen Korallenriff wenig zu tun“, sagt Mareen Möller von der Universität Oldenburg. Zum Vergleich: Allein das australische Great Barrier Reef beherbergt etwa 400 Korallenarten. Auch Sascha Pawlowski, der beim Industriekonzern BASF regelmäßig Studien zur Auswirkung chemischer Stoffe auf Korallenriffe begleitet, ist angesichts der Aussage „reef-tested“ etwas ratlos. Denn HelioScience habe nur adulte, also ausgewachsene, Korallen und lediglich über einen Zeitraum von vier Tagen getestet. „In einem Korallenriff leben deutlich mehr Arten, und Korallen sind der Sonnencreme im Meer unter Umständen deutlich länger ausgesetzt“, sagt der Ökotoxikologe. Die Zertifizierung sei aus seiner Sicht „nicht gerechtfertigt.“ Auch Möller zweifelt am Urteil von HelioScience: „Das Ganze ‘reef-tested’ zu nennen, finde ich irreführend“, sagt sie.

Die Wissenschaftlerin hat aber auch aus einem anderen Grund ein Problem mit dem Siegel. Denn anders als von V.Sun suggeriert, scheint es wissenschaftlich gar nicht so klar zu sein, inwiefern Sonnencreme überhaupt ein Problem für die Korallen ist. Eine Studie, die auch V.Sun anführt, liefert zwar Hinweise darauf, dass einige UV-Filter Korallen schaden können. Aber auch diese Untersuchung sei laut Möller wissenschaftlich fragwürdig. Die Korallenexpertin sagt:

»Das mit Abstand größte Problem der Korallenriffe ist der Klimawandel«
Mareen Möller, Universität Oldenburg

Welche Sonnencreme man verwende, könne dagegen nur einen „verschwindend geringen Einfluss“ haben. Das Problem ist: So richtig wisse man es nicht. Die Studienlage sei „bei Weitem nicht ausreichend.“ Aktuell werde mit Hochdruck daran gearbeitet, internationale Standards zu vereinbaren –, bis es belastbare Ergebnisse gibt, werde es aber wohl noch ein paar Jahre dauern.

Nicht überall allerdings wollte man so lange warten. Der pazifische Inselstaat Palau mit seinen bunten Korallenriffen war weltweit in den Nachrichten, weil er als erstes Land überhaupt ein Gesetz gegen Sonnencremes erlassen hat. Auf der Verbotsliste, die Palau selbst den „striktesten nationalen Sonnencreme-Standard der Welt“ nennt, sind diverse chemische Stoffe aufgeführt, die auf der Inselgruppe weder verkauft, hergestellt, noch importiert werden dürfen. „Wir müssen die Umwelt respektieren, denn die Umwelt ist der Ursprung des Lebens, und ohne sie kann in Palau niemand überleben“, sagte der damalige Präsident Tommy Remengesau 2020 zur Begründung.

Auch V.Sun hat mit dem Vorgehen des Inselstaates argumentiert. Mareike Matz-Kellner, die Co-Geschäftsführerin des Unternehmens, erklärte 2021 im Podcast der Kölner Parfümmarke Valjues, man habe sich „bewusst dazu entschieden, uns an dieser Blacklist von Palau zu orientieren und all diese Stoffe einfach nicht in das Produkt zu packen.“ So solle es „wirklich gar keine Gefahr“ für die Korallen geben, wenn jemand mit V.Sun auf der Haut ins Wasser gehe.

Der Inselstaat Palau ist für seine bunten Korallenriffe bekannt. Foto: Unsplash

Doch die Recherchen von SPIEGEL und „Flip“ zeigen: Ausgerechnet in der V.Sun-Sonnencreme finden sich gleich mehrere Stoffe, die auf Palau nicht erlaubt sind. Ein Abgleich der Verbotsliste mit den Inhaltsstoffen der als „korallenfreundlich“ deklarierten Produkte von V.Sun offenbart, dass in allen Sonnencremes mindestens fünf, in den meisten sogar sechs potenziell toxische Substanzen für Korallenriffe enthalten sind. Darunter etwa der Inhaltsstoff „Ethylhexyl Salicylate“ und ein UV-Filter mit dem etwas sperrigen Namen „Bis-Ethylhexyloxyphenol Methoxyphenyl Triazine“. Wie passt das zusammen? Eine korallenfreundliche Sonnencreme, die gegen das Korallenschutzgesetz verstößt, an dem man sich angeblich orientiert hat?

Auf Anfrage teilt V.Sun mit, dass es sich bei der Produktentwicklung „an den bis dahin veröffentlichten Informationen zu verbotenen Inhaltsstoffen in Palau“ orientiert habe – also einer inzwischen veralteten Liste. Die aktuelle rote Liste aus Palau, schreibt V.Sun weiter, habe man erst im August 2021 erhalten – zwei Monate nach dem Podcast-Gespräch. Nur: Das Sonnencreme-Gesetz aus Palau mit der aktuellen Liste trat bereits im Januar 2020 in Kraft. Also zweieinhalb Monate, bevor V.Sun gegründet wurde. Und etwa anderthalb Jahre vor dem Podcast-Gespräch. Das Unternehmen, das korallenfreundliche Sonnencreme verkauft, hat also offenbar monatelang nichts von dem neuen Sonnencreme-Gesetz mitbekommen, über das weltweit überall berichtet wurde.

Mittlerweile, schreibt V.Sun, verzichte man „selbstverständlich auf die Aussage“, dass man sich an der Palau-Liste orientiere. Auf die betroffenen Inhaltsstoffe will das Unternehmen aber nicht verzichten: „Zum jetzigen Zeitpunkt sind wir der Überzeugung, unseren Verbraucher:innen die beste Rezeptur zu bieten.“

Wer das – trotz aller wissenschaftlichen Zweifel – überzeugend findet, sollte besser nicht nach Palau fahren. Das zuständige Ministerium für Landwirtschaft, Fischerei und Umwelt teilt auf Anfrage mit, dass eine Einfuhr der V.Sun-Creme rechtswidrig wäre und ein Bußgeld nach sich ziehen würde.

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