Liebe Anne, Investigativ-Journalist:innen schauen ja immer dorthin, wo etwas nicht so gut läuft. Das ist ihr Job. Ich habe es Dir ja aber schon angedroht: Wir wollen heute mit Dir nicht nur über die Probleme in der Fleischindustrie reden, sondern auch darüber, ob und wie es besser werden kann.
Oha. Dann leg mal los!
Wie alles begann...
Wir fangen ganz vorne an: beim Problem. 2014 bist Du zum ersten Mal in die Welt der Schlachthöfe eingetaucht. Das Ergebnis war eine Reportage, die nicht nur Preise gewonnen hat, sondern auch politisch viel Wirbel verursachte. Sogar der damalige Vize-Kanzler hat sich bei Dir gemeldet. Worum ging es?
Ich bin damals nach Niedersachsen gefahren, in den Landkreis Vechta, weil ich wusste, dass dort viele Schlachthöfe stehen. Eigentlich war ich da, um zu multiresistenten Keimen zu recherchieren, an denen jedes Jahr viele Menschen in Deutschland sterben und bei deren Ausbreitung auch Schlachthöfe eine Rolle spielen. Ich bin dann aber auf etwas ganz anderes gestoßen: Peter Kossen, ein Geistlicher, damals Prälat in Vechta, erzählte mir von Fleischarbeitern und Fleischarbeiterinnen, die nachts im Wald schliefen, die zu Abtreibungen gezwungen wurden und der Willkür ihrer Vorgesetzten ausgeliefert waren. Er nannte sie eine „Geisterarmee“.
Klingt ja erstmal krass, mitten in Deutschland solche Zustände. Konntest Du das sofort glauben?
Ich habe gefragt: Herr Kossen, woher wissen Sie das? Er hat mich dann an eine Beratungsstelle für diese Menschen verwiesen. Über sie bin ich mit den Arbeitern und Arbeiterinnen in Kontakt gekommen. Das waren tausende von Menschen, die meisten kamen aus Rumänien und Bulgarien. Trotzdem waren sie im Alltag der meisten Deutschen quasi unsichtbar, auch weil sie so viele Stunden gearbeitet haben. Die Schlachthöfe waren gesichert wie Gefängnisse: mit Kameras, Wächtern und Zäunen aus Stahl. Die Arbeiter und Arbeiterinnen standen dort sehr dicht beieinander – das wurde dann in der Pandemie ja auch zum Problem – und haben den ganzen Tag den gleichen Schnitt ausgeführt, also zum Beispiel Schweinen den Bauch aufgeschnitten. Offiziell waren sie gar nicht direkt bei den Schlachthöfen beschäftigt, sondern über Werkverträge bei Subunternehmern. Und diese Subunternehmer waren zugleich ihre Vermieter. Die Arbeiter und Arbeiterinnen haben auf Matratzen in Mehrbettzimmern gehaust. Wenn sie mit einem Vorarbeiter Probleme hatten, verloren sie nicht nur ihren Arbeits-, sondern oft auch ihren Schlafplatz. Ich habe sogar einen Arbeiter getroffen, der im Wald geschlafen hat, in einer Mulde unter Bäumen, zusammengekauert wie ein Tier.
»Die Schlachthöfe waren gesichert wie Gefängnisse: mit Kameras, Wächtern und Zäunen aus Stahl.« Anne Kunze
Als der Vizekanzler sich bei Anne meldet
Sigmar Gabriel (SPD), damals Wirtschaftsminister und Vizekanzler, schrieb Dir in einer Email, er schäme sich für die Zustände in der Fleischindustrie und wolle etwas dagegen tun. Was ist dann passiert?
Gabriel hat mich eingeladen ins Ministerium. Er wollte unbedingt zu den Arbeitern und Arbeiterinnen fahren und mit ihnen reden. Ich habe dann mitgeholfen, das zu organisieren. Ich wollte ja auch, dass sich etwas ändert. Wir sind danach auch zusammen nach Rheda-Wiedenbrück gefahren und haben eine Führung bei Tönnies gemacht, dem größten deutschen Schweineschlachter. Später hat Gabriel Tönnies und andere Hersteller dazu gebracht, eine Selbstverpflichtung zu unterschreiben. So nach dem Motto: Wir verpflichten uns, die Arbeiter und Arbeiterinnen sozialversicherungspflichtig zu beschäftigen. Das hat aber nicht viel verändert. Im Grunde blieb das System dasselbe. Über Werkverträge mit Subunternehmen wurden die Menschen weiter ausgebeutet.
Im vergangenen Jahr kam es zu mehreren Corona-Ausbrüchen in der Fleischindustrie, auch bei Tönnies. Und das ARD-Magazin Panorama deckte auf, dass Gabriel, inzwischen aus der aktiven Politik ausgeschieden, als Berater für Tönnies gearbeitet und monatlich 10.000 Euro kassiert hat. Du warst da gerade in Elternzeit. Aber ich weiß noch, dass ich mich gefragt habe: Was denkt Anne dazu?
Ich hab darüber mit Gabriel kommuniziert. Er hat mir ellenlange SMS geschrieben, aus denen ich nicht zitieren darf. Vielleicht kann ich so viel sagen: Er sieht sich selbst weiter als jemand, der etwas verändern wollte. In der Beratertätigkeit für Tönnies sieht er überhaupt kein Problem. Wenn Tönnies Beratung braucht, dann hilft er ihm gern. So sieht er das.