Wie wichtig ist der Deutsche Nachhaltigkeitspreis?
Nüchtern betrachtet sind es natürlich nur ein paar nette Worte, etwas Applaus und eine Metallkugel. Aber als der Influencer Fynn Kliemann grinsend den Deutschen Nachhaltigkeitspreis in die Luft stemmt, ist das mehr als nur ein Moment der Freude inmitten der Pandemie. Es ist, als hätte eine höhere Instanz bestätigt, dass seine Unternehmungen nachhaltig sind. Schließlich ist es nicht irgendein Nachhaltigkeitspreis, den er da bekommt, es ist der Nachhaltigkeitspreis schlechthin.
Steht die Preisverleihung an, pilgern über tausend Menschen nach Düsseldorf ins Maritim-Hotel, wegen der Nachhaltigkeit, und ein bisschen auch wegen der Show. Wo sonst bekommt Pop-Sängerin Billie Eilish eine Laudatio aus dem Weltall, wie vergangenes Jahr, als dafür extra ein Astronaut von der Raumstation ISS zugeschaltet wurde? Und wo trifft man schon den Schauspieler Nicolas Cage und die Fantastischen Vier auf derselben Veranstaltung? Nachhaltigkeitspreisverleihung, das klingt nach ernsthafter Langeweile, in Düsseldorf singen Nelly Furtado oder Cat Stevens, es gibt Garnelen-Carpaccio und Weltstars spazieren im Blitzlicht-Strobo der Fotografen über den roten Teppich, der seit 2018 blau und aus recycelten Fischernetzen gefertigt ist. Über sich selbst sagt der Deutsche Nachhaltigkeitspreis (DNP), man sei “Europas größte Auszeichnung für ökologisches und soziales Engagement”. Man könnte auch sagen: Er ist so etwas wie der Oscar der Nachhaltigkeit.

Wenn man diesem Preis selbst einen Preis verleihen wollen würde, dann wohl dafür: Er hat das Nischenthema Nachhaltigkeit auf die große Bühne gebracht. Damals, 2008, als der Wissenschaftsjournalist und TV-Moderator Stefan Schulze-Hausmann den Preis ins Leben rief, gab es noch kein Fridays for Future und kein Pariser Klimaabkommen. Es gab den Klimawandel und zu wenige Unternehmen, die ihm Beachtung schenkten. Der Preis entfachte Aufmerksamkeit für ein vernachlässigtes Thema, ehrte Menschen, die gegen den Strom für eine gute Sache kämpften.
Sogar die Bundesregierung arbeitet mit dem Nachhaltigkeitspreis zusammen, finanziert einzelne Auszeichnungen und betrachtet den Preis als Teil ihrer Nachhaltigkeitsstrategie. Die Schirmherrschaft übernehmen in der Regel prominente Politiker:innen, allein viermal die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel. Eine Umfrage der Universität Hohenheim ergab 2017, dass der Nachhaltigkeitspreis für deutsche Unternehmen die bekannteste und begehrenswerteste grüne Auszeichnung ist.
Kein Wunder also, dass die Unternehmen sie gerne zur Schau stellen. Gewinner:innen, Nominierte oder Finalist:innen können ein entsprechendes Siegel gegen eine “Lizenz- und Bearbeitungsgebühr” erwerben, in der Kategorie Design kostet es für Unternehmen zwischen 500 und 3000 Euro, je nach Größe des Unternehmens. Dafür verspricht der Deutsche Nachhaltigkeitspreis den Unternehmen “einen Vorsprung im Markt”. Und das stimmt wahrscheinlich auch. Das Logo des Preises signalisiert den Kund:innen: Seht her, wir sind wirklich nachhaltig!
94,9 Prozent aller befragten Unternehmen gaben 2017 bei einer Umfrage der Universität Hohenheim an, den Deutschen Nachhaltigkeitspreis zu kennen. Damit ist er der bekannteste Nachhaltigkeitspreis Deutschlands.
Lässt sich der DNP zu leicht hereinlegen?
Im Fall von Fynn Kliemann war das ein falsches Signal. Zu Beginn der Pandemie fing der Influencer an, im großen Stil Schutzmasken herzustellen. Im Shop bewarb er sie als “fair produzierte, wiederverwendbare Mundbedeckungen aus Europa”. Eine Maske koste “1/10 von den überteuerten Profitgeiern”. Als ein Team um den Satiriker Jan Böhmermann dann in diesem Mai aufdeckte, dass Kliemann einen Teil der Masken wohl weder fair noch in Europa herstellen ließ, zog der Nachhaltigkeitspreis die Auszeichnung wieder zurück. “Fynn Kliemann hat uns hereingelegt”, so Stefan Schulze-Hausmann, der Initiator des Preises.
Die Frage ist, ob es nicht vielleicht auch zu einfach war, den Nachhaltigkeitspreis hereinzulegen? Im vergangenen Jahr veröffentlichten ZEIT Online und Flip eine kritische Recherche zu den Nachhaltigkeitsversprechen des Putzmittelherstellers Everdrop – auch dieses Unternehmen wurde zuvor 2020 mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis ausgezeichnet. Got Bag, ein Hersteller von Rucksäcken aus Meeresplastik, schaffte es ein Jahr später immerhin bis unter die Finalist:innen. Nach Recherchen von ZEIT Online und Flip hatte das Start-up zuvor mit falschen Zahlen geworben. Da fragt man sich natürlich auch als Journalist:in: Warum kommt der Deutsche Nachhaltigkeitspreis zu so anderen Ergebnissen? Wie wählt er seine Gewinner:innen und Finalist:innen aus? Wie überprüft er deren Angaben? Diesen Fragen sind ZEIT Online und Flip an den Beispielen von Kliemann, Everdrop und Got Bag nachgegangen.

Natürlich handelt es sich um nur drei Fälle – unter hunderten von Finalist:innen und Sieger:innen, die der Nachhaltigkeitspreis seit seiner Gründung ausgezeichnet hat, darunter Start-ups, mittelständische Unternehmen, gemeinnützige Organisationen, aber auch Konzerne wie Unilever, TUI oder ENBW. Es wäre unfair, dem Nachhaltigkeitspreis auf dieser Basis Greenwashing vorzuwerfen. Schon die drei Fälle aber zeigen, dass sich kaum nachvollziehen lässt, wie der Preis zu seinen Urteilen kommt. Und sie werfen grundsätzliche Fragen auf: Wie lässt sich Nachhaltigkeit überhaupt bewerten und von Greenwashing unterscheiden? Sollte man Unternehmen glauben oder muss man jede Zahl aufwändig überprüfen? Und was können Institutionen wie der Nachhaltigkeitspreis dabei leisten?
Klar ist: Der Nachhaltigkeitspreis sieht sich vor allem als Verstärker guter Ideen. Jedes Jahr vergibt er diverse Auszeichnungen in unterschiedlichen Kategorien. Hinzu kommen Veranstaltungen mit Co-Hosts wie Coca Cola oder Nespresso, die nicht unbedingt als Vorreiter in Sachen Umweltschutz bekannt sind. “Bei den Preisträgern”, sagt Jürgen Resch, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, “sind sicher viele gute Projekte dabei. Was mich aber stört, ist die kommerzielle Ausrichtung. Der Preis wirkt wie eine Werbeveranstaltung für Unternehmen.”
Warum haben Kliemann und Co. den Preis bekommen?
Für die Recherche hat Flip-Autorin Hella-Louise Speidel mit Partnern des Deutschen Nachhaltigkeitspreises, ehemaligen Jurymitgliedern und Expert:innen gesprochen.
Insgesamt, so kann man es vielleicht ausdrücken, sieht der Preis die Unternehmen vor allem als Partner des Wandels. Zu misstrauisch möchte man nicht sein. “Wir gehen grundsätzlich von der Richtigkeit der Angaben aus, die wir uns von jedem Bewerber explizit bestätigen lassen”, schreibt Initiator Stefan Schulze-Hausmann. Zu einem persönlichen Gespräch ist er nicht bereit. Was folgt, ist ein zäher schriftlicher Austausch, auf den Schulze-Hausmann zunehmend genervt reagiert.
Bekannt geworden ist Schulze-Hausmann als Fernsehmoderator, unter anderem für die Wissenschaftssendung “nano” auf 3Sat. Auch die Preisverleihung des Deutschen Umweltpreises hat er moderiert. Als er 2008 beginnt, einen eigenen Preis ins Leben zu rufen, sei die Idee “etwas blauäugig” gewesen, so hat es Schulze-Hausmann 2014 in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk erzählt. Er habe noch gar nicht gewusst, “was Nachhaltigkeit eigentlich bedeutet”. Aber er geht strategisch vor, sucht sich Partner:innen und überlegt, wie man “so einen Begriff wie ‘Deutscher Nachhaltigkeitspreis’ mit einem politischen Rückenwind ausstatten” könne. Er gewinnt den damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler als Schirmherren. Und er ruft die Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis ins Leben, die im rechtlichen Sinne gar keine Stiftung ist, sondern ein Verein, dessen Vorstandsvorsitzender Schulze-Hausmann ist. Sie wahre, so heißt es auf der Website, die Unabhängigkeit und Reputation des Preises.
Stefan Schulze-Hausmann betreibt aber auch die Kommunikationsagentur Coment in Düsseldorf. Auf ihrer Kund:innenliste stehen Unternehmen wie RWE, die Lufthansa, HSH Nordbank, Deutsche Telekom und Unilever. Mit dem Nachhaltigkeitspreis ist die Agentur eng verbandelt. Seit 2008, so steht es auf der Website, sei sie als “Generalauftragnehmer verantwortlich für die Durchführung des Wettbewerbs und die umfassende Produktion von Kongress und Preisverleihungsgala”. Ein Teil der Einnahmen des Nachhaltigkeitspreises landet also bei der Agentur. Und damit bei Schulze-Hausmann. Denn er ist alleiniger Geschäftsführer und Gesellschafter. Wie hoch die Einnahmen des Preises im vergangenen Jahr waren und wie viel davon an Schulze-Hausmanns Agentur gingen, will er auf Nachfrage von ZEIT Online und Flip nicht sagen. Er teilt mit, dass “die Marktüblichkeit der aufgewendeten Agenturhonorare” sowie die Zusammenarbeit zwischen Stiftungsverein und ausführender Agentur vor jedem Vertragsschluss mit der öffentlichen Hand durch Ministerien oder Projektträger überprüft würden.
Sogar die Bild-Wortmarke “Deutscher Nachhaltigkeitspreis” hat sich die Agentur von Schulze-Hausmann beim Patent- und Markenamt gesichert. Er selbst begründet das mit dem zeitlichen Ablauf. Der Preis sei 2008 als Projekt der Agentur ins Leben gerufen, die Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis als “institutioneller Träger” erst 2009 gegründet worden. Allerdings hat die Agentur sich auch 2015 noch die Bild-Wortmarke am “Next Economy Award” gesichert, einen Preis für Start-ups, der ebenfalls vom Deutschen Nachhaltigkeitspreis vergeben wird – und dessen Sonderpreis Fynn Kliemann dann fünf Jahre später zugesprochen bekam.

Was nach außen also wirkt wie eine Art bundesdeutscher Nachhaltigkeitspreis mit offiziellem Segen der Bundesregierung, ist im Grunde vor allem: Stefan Schulze-Hausmann. Auch Steuergelder sind dabei im Spiel. Das Bildungsministerium teilt auf Anfrage von ZEIT Online und Flip mit, dass es den Forschungswettbewerb des Nachhaltigkeitspreises zwischen 2012 und 2021 mit insgesamt zwei Millionen Euro gefördert habe. Das Entwicklungsministerium wiederum beteiligt sich an der Finanzierung des Wettbewerbs “Globale Unternehmenspartnerschaften”, auch in diesem Jahr. In welcher Höhe, will es nicht sagen, da “die Vertragsdaten Dritter” berührt seien. Finanziert worden sei aber auch die Preisverleihung sowie die Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit.
Nun kann man sagen: Okay, das Konstrukt hinter dem Preis ist vielleicht etwas ungewöhnlich, aber was solls, wenn es denn am Ende der Sache nutzt. Und immerhin: Der Gefahr des Greenwashings ist sich Schulze-Hausmann bewusst. “Deswegen”, schreibt er, “lebt unsere Reputation vor allem aus dem, was wir dagegen tun.” Er nennt etwa: Gegenchecks, Plausibilitätsprüfungen, „red flag“-Untersuchungen auf negative Berichterstattung, versierte Assessmentpartner sowie eine kritische und unabhängige Jury.
Das klingt erst einmal nach einem Bollwerk. Aber ist es das auch?
Wie überprüft der DNP die Angaben der Bewerber:innen?
Sowohl Got Bag als auch Everdrop haben sich in der Kategorie Design beworben. Dabei handelt es sich nicht, wie man vielleicht denken könnte, um einen Preis für das schönste Produkt. Laut Website des Nachhaltigkeitspreises geht es unter anderem darum, wie sich mit Entwicklung und Design der “größtmögliche positive Effekt für Nachhaltigkeit erreichen lässt”. Wie in den anderen Kategorien werden die Gewinner:innen dann in einem dreistufigen Prozess ermittelt: Zunächst müssen die Bewerber:innen einen Fragebogen ausfüllen. Dieser wird dann von einem externen Partner begutachtet. Am Ende entscheidet eine Jury, wer gewinnt.
“Die Wettbewerbsmethodik zielt auf maximale Transparenz ab”, heißt es in einem Dokument des Nachhaltigkeitspreises. Was die Gewinner:innen und Finalist:innen allerdings in ihren Fragebögen angegeben haben, macht er nicht öffentlich. Auch auf Nachfrage will Schulze-Hausmann die ausgefüllten Fragebögen von Got Bag und Everdrop nicht herausgeben. Sie seien “streng vertraulich”, das habe man den Unternehmen zugesichert, teilt er mit. Auch Everdrop und Got Bag wollen die ausgefüllten Fragebögen auf Anfrage von ZEIT Online und Flip nicht zur Verfügung stellen.

Wie aber soll man sinnvoll darüber diskutieren, ob Auszeichnungen angemessen waren und sind, wenn die Grundlage der Entscheidung geheim gehalten wird? Wie passt das zur maximalen Transparenz? Alles, was der Nachhaltigkeitspreis auf seiner Website kommuniziert, sind sehr knappe Begründungen der Jury. Im Fall von Everdrop sind es gerade mal sechs Sätze, die im Wesentlichen die Werbebotschaften des Unternehmens wiedergeben: Putzmittel in Tabform, die man als Konsument:in zu Hause in Wasser auflösen kann, seien innovativ. Dadurch würde CO2 beim Transport eingespart. Auch seien die Tabs biologisch abbaubar.
Nachdem Everdrop den Preis gewinnt, zeigen Recherchen von ZEIT Online und Flip im vergangenen Jahr, dass das Unternehmen die angeblich so innovative Tabform gar nicht erfunden hat. Ob unter dem Strich wirklich CO2 eingespart wird, bleibt unklar, auch weil die Herstellung der Tabs viel Energie verbraucht. “Viel Behauptung, wenig Substanz”, urteilt damals Tristan Jorde von der Verbraucherzentrale Hamburg.
Warum die Jury des Nachhaltigkeitspreises zu einem anderen Ergebnis gekommen ist? Die von ZEIT Online und Flip “beschriebenen Aspekte hatten und haben keinen Einfluss auf die getroffene Juryentscheidung”, teilt Schulze-Hausmann mit. Eine echte Diskussion scheint nicht erwünscht. Aber warum nicht? “Natürlich sinkt die Glaubwürdigkeit des Preises, wenn Personen oder Unternehmen ausgezeichnet werden, an denen im Nachhinein Zweifel aufkommen”, sagt Jörn Hoppman, der an der Universität Oldenburg zu Nachhaltigkeit forscht. Es sei eigentlich im Interesse des Nachhaltigkeitspreises, “dann nochmal genauer hinzuschauen und zu prüfen.”
Alles, was man einsehen darf, ist der leere Fragebogen. Dort sollen die Bewerber:innen ihren Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit beschreiben, den Impact “wenn möglich” mit Zahlen belegen, ihre Ziele benennen und ihr “Narrativ” erklären, also ihr “Storytelling”. Was nicht abgefragt wird, ist eine Lebenszyklusanalyse, mit der man die Umweltbilanz eines Produktes erfassen kann. Sie sei zwar relativ aufwändig und auch teuer, sagt Nachhaltigkeitsforscher Hoppmann, aber:
»Wenn ich ein Unternehmen für ein besonders nachhaltiges Produkt auszeichne, würde ich eine Lebenszyklusanalyse voraussetzen.« Jörn Hoppmann, Universität Oldenburg
Der ausgefüllte Fragebogen geht dann an die “Assessmentpartner”. In der Kategorie Design ist das die Unternehmensberatung Kearney mit über 4200 Mitarbeiter:innen. Dort landen die Fragebögen auf dem Schreibtisch von Carsten Gerhardt, einem Naturwissenschaftler, der in theoretischer Festkörperphysik promoviert hat, sich jetzt aber auch mit Putzmittel-Tabs und Rucksäcken auseinandersetzen muss. Wie er das mit seinem Team macht? Gerhardt erklärt in einem Telefonat, man lasse sich die Angaben von den Bewerbern bestätigen. Bei Unklarheiten könne man auch nochmal Testfragen stellen. Einzelne Zahlen aber könne man nicht nachprüfen. Rund drei Stunden investiere sein Team pro Bewerbung, schätzt er. Das Ganze mache man pro bono, also umsonst, da sei es dann natürlich auch eine Frage der Kapazität. Auch Gerhardt ist klar: Wenn jemand nicht die Wahrheit sagt, wird es schwierig.
Schulze-Hausmann hatte dagegen im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk noch behauptet, die Assessmentpartner würden prüfen, “ob die gegebenen Antworten der Wahrheit entsprechen oder nicht”. Dafür aber haben sie offenbar gar nicht immer die Kapazität. Auch die anderen Assessmentpartner, teilt Schulze-Hausmann auf Nachfrage mit, würden “in den meisten Fällen pro bono” arbeiten. Wie genau sie arbeiten und wonach sie Nachhaltigkeit überhaupt bewerten, bleibt unklar. Punktzahlen würden im Assessment nicht verwendet, schreibt Schulze-Hausmann. Carsten Gerhardt von Kearney stellt im Gespräch zunächst in Aussicht, den Kriterienkatalog zu schicken, will ihn dann aber nach Rücksprache mit dem Nachhaltigkeitspreis doch nicht zur Verfügung stellen, da es sich um “Proprietäres Material” handele.
Wie viel Misstrauen ist angebracht, muss vielleicht sogar sein? Der Rucksackhersteller Got Bag hat in der Vergangenheit damit geworben, den ersten Rucksack aus “100 Prozent Meeresplastik” zu verkaufen. Wie ZEIT Online und Flip in diesem Jahr berichtet haben, war diese Zahl falsch. Auch Angaben zu den Emissionen und dem Wasserverbrauch ließen sich nicht halten. Zwar wurde Got Bag nicht mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis ausgezeichnet. Das Unternehmen gehörte im vergangenen Jahr aber zu den Finalist:innen – und damit laut den Veranstalter:innen zu jener “Spitzengruppe, die sich durch herausragend nachhaltige Lösungen qualifiziert”. In der Jury-Begründung wird sogar explizit und bis heute die “glaubwürdige Kommunikation” gelobt. Viele Kund:innen dagegen fühlen sich getäuscht.

Zwar schreibt Schulze-Hausmann, die “100 Prozent Meeresplastik” seien im Fragebogen nicht genannt worden. Got Bag habe nur angegeben, dass die Grundbestandteile fast vollständig aus dem eigenen Ocean-Cleanup-Programm stammten. Aber macht es das besser? Wirkt es nicht seltsam, ein Unternehmen, das mit falschen Zahlen groß geworden ist, auch dann noch für seine glaubwürdige Kommunikation zu loben,wenn andere Fakten vorliegen? Macht man sich so nicht selbst unglaubwürdig?
Die Jurys des Nachhaltigkeitspreises, die am Ende entscheiden, bestehen fast durchweg aus renommierten Fachleuten und Expert:innen. Auch sie aber bekommen kein Honorar, eigene, umfassende Recherchen kann man da kaum von ihnen erwarten. Ein früherer Juror bestätigt, dass man sich im Wesentlichen auf die Informationen des Assessmentpartners verlassen habe. Diese werden für die Jury in einem Prüfbericht zusammengefasst. Im Fall von Got Bag liegt er ZEIT Online und Flip vor. Zwar schreibt Kearney, Got Bag sei “ein bisschen sehr selbstbewusst in der Selbstdarstellung”. Dennoch schlug man der Jury Got Bag als eines der Unternehmen vor, die “am besten abgeschnitten” hätten.
Als Fynn Kliemann den Preis im Dezember 2020 entgegennimmt, ist die Show etwas weniger bombastisch als sonst. Die Pandemie zwingt auch den Deutschen Nachhaltigkeitspreis in schmalere Bahnen, Kliemann ist lediglich per Video zugeschaltet, nur eine Handvoll Menschen sitzen im Saal, die Verleihung in diesem Jahr mehr TV-Show als Gala. An der Strahlkraft der Auszeichnung ändert das nichts. Kliemann gewinnt in der Kategorie Next Economy Award einen Sonderpreis.

Was aber bedeutet ein “Sonderpreis” überhaupt? “Sonder- und Ehrenpreise bieten wir an, wenn wir eine Person für würdig erachten”, schreibt Schulze-Hausmann. Das normale Prozedere des Nachhaltigkeitspreises haben die Ausgezeichneten gar nicht durchlaufen. Man habe sich durch Fynn Kliemanns Team den Herkunftsort der Masken bestätigen lassen, so Schulze-Hausmann. Die Preisträger:innen aber “selbst zu bitten, zusätzlich Beweise für ihre Leistungen anzutreten, wäre unpassend.” Gab es im Fall Fynn Kliemann also überhaupt ein Assessment oder eine Jury-Entscheidung? Diese Fragen lässt Schulze-Hausmann unbeantwortet. Nur so viel: Kliemann, schreibt er, habe die Auszeichnung auf “Anregung des Vorstandes” erhalten.
Vor fünfzehn Jahren, als Stefan Schulze-Hausmann den Preis ins Leben rief, war Nachhaltigkeit ein Nischenthema, eine große Bühne und etwas Glamour haben ihr nicht geschadet. Mittlerweile aber gibt es kaum ein Unternehmen, das nicht mit Nachhaltigkeit wirbt, gleichzeitig ist der Begriff schwammig und die Grenze zum Greenwashing fließend. Umso mehr braucht es Debatten auf Grundlage gesicherter Fakten. Nur so können sich die Maßstäbe, an denen man Nachhaltigkeit misst, nach und nach schärfen. Und nur so kann das Vertrauen der Verbraucher:innen in wirklich nachhaltige Angebote wachsen. Der Nachhaltigkeitspreis aber verlässt sich weitestgehend auf die Angaben der Unternehmen. Seine Entscheidungen sind kaum nachzuvollziehen. Im Fall von Fynn Kliemann sieht er sich schlicht als Opfer.
Wer Greenwashing anprangert, wird vom Nachhaltigkeitspreis unter einen seltsamen Generalverdacht gestellt. Nach vielen Nachfragen von ZEIT Online und Flip veröffentlicht er auf seiner Website einen Text vom Vorstandsmitglied Günther Bachmann. “Die Daumenregel”, so heißt es dort, lege nahe: “Je empörter sich Medien und Verbände zeigen, desto deutlicher wird, wie froh sie sind, nicht selbst erwischt worden zu sein.” Es wird kein einziges Beispiel genannt, das diese “Daumenregel” untermauern würde.
Bis zum 15. Jubiläum des Preises im Dezember sind es nur noch ein paar Monate. Auch Olaf Scholz wird als Ehrengast mit dabei sein. Vielleicht wird dann auch der Bundeskanzler über einen blauen Teppich aus recycelten Fischernetzen schreiten. In jedem Fall wird es bestimmt wieder eine bombastische Show.