Was ist das Problem?
Jedes Jahr gehen in Deutschland große Mengen Strom aus erneuerbaren Energien verloren. Das liegt daran, dass die Produktion von Wind- und Sonnenenergie abhängig von Tageszeit und Wetter ist. Wenn gleichzeitig die Sonne scheint und der Wind weht, die Nachfrage nach Strom aber gering ist, werden zum Beispiel Windräder aus dem Wind gedreht, sodass sie keinen Strom erzeugen, obwohl sie eigentlich könnten.
Das ist nicht nur ärgerlich fürs Klima, sondern kostet auch eine Menge Geld. Deshalb sollen sich Verbraucher:innen künftig stärker an den Rhythmus von Sonne und Wind anpassen. Der Schlüssel dazu sind dynamische Stromtarife. Das sind Verträge, bei denen die Preise sich in kurzen Abständen ändern, jede Stunde oder sogar jede Viertelstunde. So sollen Verbraucher:innen durch günstigere Preise dazu gebracht werden, ihren Stromverbrauch in jene Zeiten zu schieben, in denen Wind und Sonne abliefern.
Noch sind dynamische Tarife ein Nischenprodukt, doch das könnte sich schnell ändern. Ab dem kommenden Jahr müssen alle Stromversorger in Deutschland so einen Tarif anbieten, manche Energieversorger tun das jetzt schon. Was für die Energiewende sinnvoll ist, birgt für die Verbraucher:innen allerdings ein Risiko: Verbraucht man Strom in Zeiten, in denen weder die Sonne scheint, noch viel Wind weht, kann es teuer werden.
Was ist der Ansatz von 1Komma5°?
Das Startup 1Komma5° will Energie im Rhythmus von Wind und Sonne liefern – aber “Ohne Verzicht” und “Ohne Risiko”, wie es auf seiner Website heißt. Konkret bedeutet das: Im besten Fall soll der Strom für die Kund:innen ganz umsonst sein. Nie aber soll er richtig teuer werden. Und immer soll es der sauberste Strom sein. Was nach der Quadratur des Kreises klingt, ist tatsächlich das zentrale Versprechen von 1Komma5°: „Wir garantieren dir mit unserem dynamischen Stromtarif Dynamic Pulse immer den günstigsten und saubersten Strom - und das für die nächsten 2 Jahre zu maximal 15 Cent/kWh.” Zum Vergleich: Für eine Kilowattstunde Haushaltsstrom zahlt man momentan etwa 42 Cent.
Einer der Gründer des Startups ist Philipp Schröder. Aufgewachsen ist er auf einem Biobauernhof in Norddeutschland. Später schmiss er sein Jura-Studium, gründete ein erstes Startup, traf Elon Musk – und wurde der Chef von Tesla in Deutschland. Von Musk hat er gelernt, groß zu denken. Ein Beispiel: Aus dem Allgäuer Batterie-Spezialisten Sonnen formte er als Geschäftsführer innerhalb kürzester Zeit einen der weltweit führenden Herstellern von intelligenten Stromspeichern, sammelte viele Millionen von Investoren ein und verkündete in Interviews, Energieriesen wie RWE und Eon “platt machen“ zu wollen.
Nun also 1Komma5°, ein Unternehmen, das es noch nicht einmal vier Jahre gibt – und das trotzdem schon mit mehr als einer Milliarde US-Dollar bewertet wird und damit zu den ganz wenigen “Unicorns” in Deutschland gehört. Das rasante Wachstum lässt sich auch an den Mitarbeitenden-Zahlen ablesen: Innerhalb des vergangenen Jahres hat sich das Team auf 2.000 Angestellte verdoppelt, bis 2025 will man die 3.000 knacken. Neue Köpfe kamen unter anderem von Tesla und Sonnen – Schröders ehemaligen Arbeitgebern. Gewachsen ist das Unternehmen aber auch durch den Kauf von Dutzenden von Handwerksunternehmen, die zum Beispiel Wärmepumpen oder Solaranlagen installieren. Auch das ist Teil einer großen Vision, die laut 1Komma5° darin besteht, "allen einen günstigen und einfachen Zugang zu den besten Klimatechnologien zu ermöglichen”. Schon im kommenden Jahr könnte das Unternehmen einen Börsengang hinlegen.
Schröder lädt zum Interview mit Flip in den Hamburger Showroom von 1Komma5°, direkt an der Binnenalster. Durch die violette Beleuchtung sieht dort alles irgendwie futuristisch aus. In großen Leuchtbuchstaben hängt der Name des Unternehmens von der Decke. An der Wand sieht man einige Demo-Geräte, einen intelligenten Stromzähler etwa und die sogenannte Wallbox, ein Gerät, mit dem man Elektroautos laden kann. Das alles gehört zum Ökosystem, mit dem 1Komma5° die Strommarkt revolutionieren will. Das Herzstück aber findet man in einer Glasvitrine, ausgestellt wie ein Juwel. Es ist ein weißes, quadratisches Kästchen, nicht mal so groß wie ein W-Lan-Router. In ihm befindet sich die “Heartbeat AI”, die künstliche Intelligenz also, die den Energieverbrauch der Kund:innen so steuern soll, dass sie möglichst viel Geld und CO2 sparen können.
Mit ihr will Schröder nicht weniger als die klassischen Energieversorger überflüssig machen. „Es ist ein bisschen vergleichbar damit, dass du seit Amazon den Buchhandel nicht mehr brauchst, weil du direkt beim Verlag einkaufen kannst“, sagt er. In diesem Vergleich wäre 1Komma5° das Amazon der Energiewende, also eine Plattform, über die die Kund:innen ihren Strom gesteuert von einer künstlichen Intelligenz direkt an der Strombörse kaufen.
Wie genau das funktionieren soll und ob 1Komma5° wirklich den günstigsten und saubersten Strom liefern kann, hat Flip-Autorin Sonja Walke für Euch recherchiert.
Kann 1Komma5° den günstigsten Strom liefern?
Tatsächlich sind die beworbenen 15 Cent pro Kilowattstunde unschlagbar günstig. Das Problem ist: Um diesen Preis zu bekommen, muss man erstmal eine ganze Menge Geld investieren. Und auch dann gilt er nur mit einer Reihe von Einschränkungen.
Um das zu verstehen, muss man ein wenig ausholen. Dynamische Stromtarife sollen ja durch niedrige Kilowattstunden-Preise die eigene Stromrechnung senken. Doch das funktioniert nur, wenn man den Strom wirklich in den Zeiten nutzt, in denen er an der Börse am günstigsten ist. Das Grundkonzept von 1Komma5° besteht also darin, den Stromverbrauch mit Hilfe von künstlicher Intelligenz und zusätzlichem Equipment in genau jene, besonders günstige Zeiten zu verschieben. Ein an die Wallbox angeschlossenes Elektroauto etwa soll automatisch dann geladen werden, wenn der Strom an der Börse gerade am günstigsten ist. Will man das Elektroauto dringend trotz gerade hoher Strompreise laden, soll ein eigener Batteriespeicher Abhilfe schaffen. Was 1Komma5° also anbietet, ist ein Gesamtsystem aus Hardware, Software und Stromtarif.
Das aber macht dann auch schon den ersten großen Nachteil deutlich. So muss man in der Regel mehrere Geräte kaufen, um vom günstigen Stromtarif zu profitieren. All diese Geräte – vom Stromspeicher über die Wallbox bis zu Solaranlagen und Wärmepumpen – bietet das Startup selbst an. Einzelpreise kommuniziert es auf der Website nicht. Die Vollausstattung eines Einfamilienhauses hat Schröder in einem Interview aber mal auf „50.000 bis 60.000 Euro“ beziffert. Die Frage ist: Für wen macht das überhaupt Sinn?
Klar ist: Das Angebot richtet sich nur an Eigenheimbesitzer:innen. Und: Man braucht mindestens einen Batteriespeicher sowie eine Wärmepumpe oder eine Wallbox für das Elektroauto, damit sich das Angebot lohnt. Wer Strom zu Hause nur für normale Haushaltsgeräte wie Waschmaschine & Co benötigt, fährt mit anderen Angeboten besser. Das sagt auch Sören Demandt, der sich für die Verbraucherzentrale NRW mit der digitalen Energiewende beschäftigt: „Für normale Haushaltskunden lohnt sich ein dynamischer Tarif nicht wirklich.”
Der Verbraucherschützer warnt außerdem davor, dass günstige, dynamische Tarife auch ein Marketing-Instrument sein können, “um Hardware an den Mann oder an die Frau zu bringen“. Das Elektronikportal Efahrer ist in einer Umfrage beispielsweise zum Ergebnis gekommen, dass der Preis einer 1KOMMA5°-Solaranlage mit 17.300 Euro über dem Marktdurchschnitt liegt. Sören Demandt empfiehlt deshalb, vor Abschluss eines Vertrags auch die Kosten für das Equipment von verschiedenen Anbietern zu vergleichen – dort könne es nämlich große preisliche Unterschiede geben.
Doch nicht nur das Equipment kostet Geld. Hinzu kommen auch noch knapp zehn Euro im Monat für die intelligente Software. Beides zusammen ergibt das Geschäftsmodell, das Schröder auch ganz offen kommuniziert. „Wir verdienen Geld, indem wir Equipment verkaufen, und 85 Prozent unserer Kunden zahlen eine fixe Software-Gebühr für die Optimierung, am Strom verdienen wir nix“, sagt er.
Es ist ein bisschen so, als würde man sagen: Schaut her, wir liefern die günstigsten Staubsaugerbeutel – um den Leuten einen Staubsauger-Roboter zu verkaufen, der erstmal richtig teuer ist und zugleich mit einer festen, monatlichen Nutzungsgebühr daherkommt. Das heißt nicht, dass das Angebot schlecht sein muss. Es kommt halt drauf an, wie viel man staubsaugt. Und ob die Staubsaugerbeutel dann tatsächlich so günstig bleiben.
Schaut man nämlich genau hin, haben auch die beworbenen 15 Cent pro Kilowattstunde eine ganze Reihe von Haken. Sie gelten beispielsweise nur in bestimmten Regionen. Je nach Wohnort können es auch bis zu 23 Cent pro Kilowattstunde werden. Außerdem gelten sie nicht für den Strom, mit dem man Spülmaschine, Trockner oder Waffeleisen zum Laufen bringt, sondern nur für den Strom, der in Stromspeicher, Elektroauto oder Wärmepumpe fließt. Und: Die Garantie ist auf maximal 2000 Kilowattstunden Verbrauch pro Jahr und Gerät gedeckelt. Aber reicht das, um beispielsweise eine Wärmepumpe zu betreiben? „Bei sehr modernen, kleinen Gebäuden kann das ausreichen – doch in den allermeisten Fällen, vor allem in Bestandsgebäuden, kommt man schnell auf über 2000 Kilowattstunden“, sagt Verbraucherschützer Sören Demandt.
Ob sich das Angebot von 1Komma5° unterm Strich lohnt, ist also eine komplizierte, individuelle Rechnung. Dem Versprechen vom "günstigsten Strom" wird 1Komma5° nur gerecht, wenn man lediglich auf den Strompreis schaut – und alle anderen Kosten ausblendet.
Kann 1Komma5° den saubersten Strom liefern?
An dieser Stelle wird es fast schon philosophisch. Denn: Was ist sauberer Strom überhaupt? Aus der Steckdose kommt ja physikalisch gesehen überall das gleiche raus.
Bisher denkt man bei sauberem Strom vor allem an Ökostrom. Hier wiederum gibt es ganz grob gesagt zwei Arten von Anbietern. Die einen kaufen den Strom ganz normal an der Strombörse ein. Dort wird aber nur Graustrom gehandelt, also ein Strommix, der aus erneuerbaren Energien, aber auch aus Kohle- oder Atomkraftwerken stammen kann. Durch den Kauf von Zertifikaten kann man den Strom dann aber trotzdem als Ökostrom verkaufen. Daneben gibt es Unternehmen, die sich selbst oft als “echte” Ökostromanbieter bezeichnen. Sie kaufen den Strom direkt von den Betreibern der Wind- und Solaranlagen oder produzieren ihn sogar selbst. Mit den Gewinnen sollen dann neue Ökostromanlagen gebaut werden.
Das Interessante ist: 1Komma5° fällt in keine der beiden Kategorien. Das Startup kauft weder Öko-Zertifikate noch setzt es auf den Einkauf direkt bei den Betreibern. Stattdessen kauft es einfach nur Graustrom an der Börse. Dass es diesen trotzdem als “saubersten Strom” vermarktet, fußt auf einer relativ simplen Argumentation: Man kaufe ja, wenn der Preis besonders niedrig sei. Das sei immer dann der Fall, wenn gerade besonders viel Strom aus erneuerbaren Quellen eingespeist wird. Also sei der Strom, den man kaufe, im Umkehrschluss auch der sauberste. „Wir kaufen Graustrom”, sagt Philipp Schröder, “aber durch unsere Steuerung ist der tatsächliche Anteil der Erneuerbaren besonders hoch.”
Dass man auf diese Weise “immer” den saubersten Strom liefere, wie 1Komma5° behauptet, bezweifeln Experten. Armin Ardone, der am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) zu nachhaltigen Energiemärkten forscht, weist darauf hin, dass „in einzelnen Stunden geringe Preise trotz zeitgleich höherer CO2-Emissionen auftreten”. Auch Verbraucherschützer Sören Demandt sagt, dass “durch die reine Kostenoptimierung nicht garantiert werden” könne, dass man ausnahmslos den saubersten Strom liefere. Allenfalls könne man sagen, dass günstiger Strom häufig auch “sauberer” Strom sei. Selbst wenn man also der grundsätzlichen Argumentation von Schröder folgt, lässt sich das Versprechen, “immer“ den saubersten Strom zu liefern, in seiner Absolutheit so nicht halten.
Eine andere Frage ist, was eigentlich am besten für das Klima ist: “Echter Ökostrom”, der dafür sorgt, dass der Ausbau erneuerbarer Energien vorankommt? Oder ein dynamischer Tarif wie der von 1Komma5°, der dazu beiträgt, dass der Stromverbrauch besser mit dem Angebot an grünem Strom zusammengebracht wird und weniger Strom verloren geht? Das haben wir mehrere Wissenschaftler gefragt, doch keiner von ihnen wollte sich hier festlegen. Sinnvoll ist, so das Fazit, grundsätzlich beides. Und wahrscheinlich lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie sie sich noch besser ergänzen können – anstatt mit knackigen, aber überzogenen Versprechen für Verwirrung zu sorgen.