Was ist das Problem?
Viele Menschen essen gerne Fisch. In Deutschland lag der Konsum 2023 bei 13,4 Kilogramm pro Kopf. Das aber lässt sich immer weniger mit den überfischten Meeren in Einklang bringen. Viele Fischbestände sind durch Überfischung bedroht oder bereits zusammengebrochen. Das liegt nicht nur daran, dass wissenschaftlich errechnete Höchst-Fangmengen nicht eingehalten wurden. Laut einer gerade im Fachmagazin Science veröffentlichten Studie sind auch die Empfehlungen bereits zu hoch angesetzt. Fast ein Drittel jener Bestände, die von der Welternährungsorganisation als „maximal nachhaltig befischt“ eingestuft werden, seien in Wirklichkeit überfischt. Rainer Froese vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel sieht das ähnlich. Mit den Verbraucherzentralen bringt das Geomar regelmäßig eine Übersicht heraus, welche Fische man noch mit mehr oder weniger gutem Gewissen essen kann. “Es werden gerade immer weniger Fische auf der Liste", sagt er.
Was ist der Ansatz von Bluu Seafood?
Wie wäre es also, wenn Fisch weder aus dem Meer noch aus einer Aquakultur kommen würde, sondern im Labor gezüchtet werden könnte? Genau das versucht das Hamburger Startup Bluu Seafood. Es hat es sich zur Aufgabe gemacht, Fischzellen im Labor zu züchten. Damit möchte es die Ozeane schützen und den Menschen zugleich ermöglichen, weiter Fisch zu essen. Es gehe darum, “echte Meeresfrüchte ohne das Meer” zu produzieren, heißt es auf der Website. Dort steht auch: “Gesund für Dich, gesund für den Planeten”.
Was das 2020 vom Zell- und Meeresbiologen Sebastian Rakers und dem Unternehmer Simon Fabich gegründete Start-up macht, hat viele Namen. Manche sprechen von “In-vitro-Fisch” oder “kultiviertem Fisch”, andere ganz einfach von “Labor-Fisch”. Egal wie man es nennt: Es ist in der Branche ein großes Thema – und weckt Phantasien, auch von Investor:innen. Seit seiner Gründung hat Bluu mehr als 23 Millionen Euro eingesammelt. Zu den Geldgebern gehören große Player wie Dr. Oetker, die Bank LBBW und Delivery Hero.

Besucht man das Hamburger Labor von Bluu Seafood, kriegt man einen ersten Eindruck, wie die Zukunft der Fischproduktion aussehen könnte. Alles ist weiß und steril, kaltes Licht strahlt von der Decke. Um die Räume betreten zu können, zieht man sich Schuhüberzieher und einen Kittel an. Der Fisch entsteht in Reagenzgläsern.
Durch die Räume führt Cornelius Lahme, bei Bluu zuständig für Marketing und Kommunikation. Seit April 2023 ist er im Unternehmen. Davor hat er zum Thema Social Entrepreneurship promoviert, also sozialem Unternehmertum. "Niemand braucht uns, wenn wir nicht die Probleme lösen, die durch die industrielle Fischerei im Bereich Umwelt und Tierleid verursacht werden”, sagt er. Das ist ein hoher und hehrer Anspruch. Auf der Website klingt das ähnlich. Dort verspricht Bluu, dass seine Produkte "köstlich", “gesund” und “ohne Tierleid” seien und “keinen Einfluss auf das Ökosystem Meer” hätten.
Kaufen kann man die Fischstäbchen und Fischbällchen, die Bluu bisher entwickelt hat, noch nicht. Das aber soll sich bald ändern. Das Unternehmen hofft in den kommenden Monaten auf eine Zulassung in Singapur. Voraussichtlich im Sommer 2025 sollen die Fischbällchen dort in der gehobenen Gastronomie verkauft werden. Danach sollen die USA folgen. Dort erhofft sich Bluu ein schnelleres Zulassungsverfahren als in der EU. Beide Länder haben bereits kultivierte Fleischprodukte auf dem Markt. Bluu könnte das erste Unternehmen sein, das kultivierten Fisch auf den Teller von Kund:innen bringt.
Wie genau soll das funktionieren?
Etwas vereinfacht lässt sich die Produktion von Labor-Fisch in fünf Schritten beschreiben:
- Die richtigen Zellen finden
Bei Bluu ist das unter anderem die Aufgabe der Biotechnologin Linn Kreins. Dazu schneidet sie mit einem spitzen Messer in einem Fischfilet herum. So entstehen kleine Stückchen, die sie zusammen mit komplexen Eiweißmolekülen (Enzyme) in ein Reagenzglas füllt. So sollen Stammzellen für den Labor-Fisch isoliert werden. Die Zellen, die Kreins und ihre Kolleg:innen im Fisch suchen, sind sogenannte immortale Stammzellen. Sie können sich ohne Qualitätsverlust teilen.
- Die Zellen füttern
Wenn die richtigen Zellen gefunden sind, sollen sie sich vermehren. Dafür brauchen sie Futter. Das kommt in Form einer Nährlösung, die aus Zutaten wie Wasser, Kohlenhydraten, Proteinen, Fetten, Mineralien und meist einem umstrittenen Fetalen Kälberserum (FKS) besteht. In diesem Gemisch wachsen Zellen besonders gut. Das Problem: Das FKS wird aus dem Blut ungeborener Kälber gewonnen, die das nicht überleben. Mehr dazu lest Ihr weiter unten im Text.
- Die Zellen vermehren
Die Zellen kommen mit der Nährlösung in einen sogenannten Fermenter, ein Glasgefäß, in dem sie umhergewirbelt werden, damit sie nicht an der Oberfläche haften bleiben. Nur so können richtig viele Zellen wachsen.

- Die Fischpampe "ernten"
Am Ende werden die Fischzellen mit Hilfe eines Gerätes, das die Zentrifugalkraft nutzt, nach unten gedrückt. Es entsteht ein gelb-weißlicher Brei, der aus der Nährlösung herausgezogen wird. Das ist die Ernte: eine Fischpampe.

- Fischbällchen produzieren
Die Fischpampe lagert dann in einem Kühlschrank, bis das Food-Tech-Team von Bluu zum Zug kommt. Es ist dafür zuständig, aus der Pampe Fischbällchen zu machen. Dazu wird sie mit pflanzlichen Proteinen und weiteren Zutaten angereichert. Die Fischbällchen sind aktuell also kein reines Fischprodukt, sondern bestehen zu circa 15 Prozent aus dem kultivierten Fisch.

Festhalten kann man, dass die Herstellung von Labor-Fisch noch ganz am Anfang steht. Bei Bluu träumt man zwar schon vom Lachsfilet aus dem Labor, bisher aber wird vor allem Fischpampe hergestellt, die dann etwa zu Fischbällchen weiterverarbeitet werden kann.
Hilft Labor-Fisch gegen Überfischung?
In der Theorie ist das vorstellbar: wenn wirklich viele Menschen von Fisch auf Labor-Fisch umsteigen würden. Davon aber ist die Wirklichkeit noch weit entfernt. “Insgesamt werden jährlich circa 100 Millionen Tonnen Fisch weltweit gefangen. Diese Mengen wird man nicht mit Fisch aus dem Labor ersetzen können”, sagt Rainer Froese vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung. Derzeit könne Bluu Fischmasse im “Kilogramm-Bereich" produzieren, sagt Cornelius Lahme. Im Vergleich ist das wenig.
Auch Jana Fischer von der Verbraucherzentrale Hamburg hält kultivierten Fisch erstmal für ein “Nischenthema”. Ob sich daran mal etwas ändere, hänge vom Preis ab – und davon, ob “die ökologischen Vorteile klar erkennbar” seien. Derzeit sei noch nicht abzuschätzen, wie die Ökobilanz der Endprodukte im Vergleich zu Fisch ausfalle.
Bittet man den Zukunftsforscher Tobias Hungerland am Institut für Innovation und Technik um eine Einschätzung, antwortet er: "Die zelluläre Landwirtschaft allein wird weder bei Fleisch noch Fisch die Probleme der Massentierhaltung oder der Überfischung lösen können. Vielleicht aber, sagt er, “kann sie einen Teil dazu beitragen. Es werden aber auch andere Alternativen wie etwa pflanzliche Proteine eine große Rolle spielen.”
Zusammengefasst heißt das: Niemand kann die Frage, ob Labor-Fisch ein Mittel gegen die Überfischung sein kann, derzeit seriös beantworten. Dazu ist es einfach noch zu früh.
Wie gesund ist kultivierter Fisch?
Bluu wirbt damit, dass der Labor-Fisch “healthy”, also gesund sei. Die Argumentation: Der Fisch aus dem Meer werde zunehmend durch Schadstoffe verschmutzt, Schwermetalle oder Mikroplastik zum Beispiel. Anders der Labor-Fisch, der unter kontrollierten Bedingungen produziert wird. Er sei daher besser “für Dich und den Planeten.”
Auch dagegen lässt sich in der Theorie wenig sagen. Wenn tatsächlich einmal reine Fischfilets produziert werden könnten, wäre das so. Davon aber ist Bluu noch weit entfernt. Bei den Fischbällchen, die 2025 auf den Markt kommen sollen, ist die Bewertung eine andere. Sie seien von den Inhaltsstoffen nicht mit einem Fischfilet zu vergleichen, das oft wegen seiner guten Fette und Proteine konsumiert werde, sagt Jana Fischer von der Verbraucherzentrale Hamburg. Dafür sei einfach zu wenig Fisch enthalten. Trotzdem könne durch die Zugabe von hochwertigen pflanzlichen Inhaltsstoffen ein gutes Produkt entstehen. Wie die Fischbällchen oder Fischstäbchen am Ende gesundheitlich abschneiden, lasse sich erst sagen, wenn die genaue und endgültige Rezeptur vorliege. Dann entscheide sich auch überhaupt erst, mit welchem Produkt sich die Bällchen am ehesten vergleichen lassen: Fisch, Fischstäbchen oder doch veganen Ersatzprodukten.
Ist das ethisch vertretbar?
Öffnet man die Website von Bluu, springt einem ein riesiger Schriftzug in Großbuchstaben entgegen: “REAL SEAFOOD, NO TRADE-OFFS” steht da. Übersetzt bedeutet das “Echte Meeresfrüchte, keine Kompromisse”. Es ist die Idee, die sowohl hinter kultiviertem Fisch als auch Fleisch steckt. Es gibt ein Produkt, das schmeckt wie das tierische Äquivalent, aber ganz ohne Tierleid auskommt und den Planeten schützt. “Die Idee zellulärer Landwirtschaft war von Anfang an normativ aufgeladen”, sagt die Philosophin Arianna Ferrari, die sich seit vielen Jahren mit dem Thema beschäftigt und auch dazu geforscht hat. “Sie wurde als Win-win-Technologie verkauft. Dahinter steht die Hoffnung, Fleisch oder Fisch ohne schlechtes Gewissen konsumieren zu können.”
Ganz ohne Trade-Offs funktioniert es bisher aber nicht. Zum einen müssen immer noch ein paar Fische sterben, das betont auch Ferrari. Sie braucht man ja, um daraus Stammzellen zu gewinnen. Laut Bluu sind das in der aktuellen Entwicklungsphase aber gerade mal fünf Fische pro Jahr. Außerdem gehöre es zur Vision des Start-ups, dass irgendwann gar keine Fische mehr sterben müssen, weil Zelllinien gefunden wurden, die man immer wieder und wieder verwenden könne.
Das größere Problem ist derzeit das Fetale Kälberserum (FKS). Es wird gewonnen, indem einer geschlachteten Kuh die Gebärmutter und der ungeborene Fötus entnommen wird. Anschließend wird dem Fötus Blut aus dem Herzen entnommen, welches zur Serumsgewinnung verwendet wird. Zum Teil sollen die Föten bei dieser Prozedur noch am Leben sein. Der Deutsche Tierschutzbund bezeichnet die Blutentnahme in einem Beitrag von Correctiv als „grausam“ und fordert, „dass fötales Kälberserum nicht mehr verwendet wird und durch serumfreie Alternativen ersetzt wird.“ Auch Cornelius Lahme von Bluu weiß, wie umstritten FKS ist. “Am Ende wird diese Firma nicht viel verkaufen können, wenn da FKS drin ist”, sagt er. Kund:innen würden langfristig kein Produkt kaufen, das das Wohl der Fische propagiere, aber das Leid von Kälbern in Kauf nehme. Zudem sei FKS so teuer, dass es sich auch wirtschaftlich langfristig nicht rechne.
Auf der Website von Bluu klingt es so, als wäre dieses Problem schon gelöst. Dort heißt es in den FAQs zur Frage, ob Bluu FKS verwende: “FKS wird seit jeher in der Forschung und Entwicklung zur Zellkultivierung eingesetzt. Wir sind stolz, dass wir es geschafft haben, Zellen erfolgreich ohne FKS zu kultivieren”. Als wir deshalb noch einmal bei Lahme nachhaken, fällt die Antwort etwas differenzierter aus. Bluu sei es gelungen, ein Nährmedium ohne FKS zu kreieren, das für das Zellwachstum funktioniere. In der Forschung benutze man aber noch immer das Kälberserum, so Lahme. “Ob die Fischbällchen, die in Singapur auf den Markt kommen, zu Beginn schon FKS-frei sind, kann ich nicht genau sagen. Ich gehe davon aus, dass zu Beginn noch FKS im Nährmedium eingesetzt wird, wenn auch nur zu einem sehr geringen Anteil.”