Was ist das Problem?
Der Nachtzug wird seit einigen Jahren als Alternative zum Flugzeug gefeiert. Medien berichten über jede neue Linie, auf Social Media werden Erfahrungen ausgetauscht und Bekannte erzählen, dass sie mit dem Zug in den Urlaub wollen. Tatsächlich soll Zugfahren das Klima im EU-Schnitt 28 Mal weniger schädigen als vergleichbare Flugreisen, wie eine Berechnung der Initiative Back on Track zeigt. Allerdings existiert europaweit nur noch ein Bruchteil der Verbindungen, die es mal gab. Die Deutsche Bahn hat seit 2016 sogar gar keine eigenen Nachtzüge mehr. Und die verbliebenen Verbindungen sind im Betrieb so teuer, dass nur die wenigsten Strecken wirtschaftlich sind. Das macht sie unattraktiv für viele Anbieter und zu teuer für die meisten Fahrgäste. Und das, obwohl sich laut einer Umfrage von Germanwatch aus dem Jahr 2021 insgesamt 69 Prozent der EU-Bürger:innen bei besseren Preisen prinzipiell vorstellen können, Flüge durch Nachtzüge zu ersetzen.
„Wir sind noch weit von einer Renaissance des Nachtzugs entfernt, aber das Potenzial ist riesig”, sagt auch Juri Maier von der Initiative Back on Track im Gespräch mit Flip. Er ist so etwas wie ein ehrenamtlicher Lobbyist und setzt sich mit Back on Track europaweit für bessere Nachtzüge ein. Als er von seiner letzten Zugreise nach Istanbul erzählt, gerät er ins Schwärmen. Ansonsten klingt Maier eher frustriert, spricht von veralteten Trassen, bürokratischen Hürden oder der Preispolitik der Deutschen Bahn. Sein Fazit: Eine einfache Lösung, für bessere Nachtzüge, gebe es nicht.
Wieso hat’s der Nachtzug so schwer?
Zum einen haben Nachtzüge ganz andere Anforderungen als die Züge, mit denen wir tagsüber fahren. Bisher sind sie dabei deutlich ineffizienter. Ein Aspekt: Die Züge selbst. Denn sie sind oft Jahrzehnte alt und können nur nachts sinnvoll eingesetzt werden, weil sie durch Betten und Liegewagen viel weniger Gäste transportieren als gewöhnliche Fernzüge. Hier seien die Hersteller der Züge gefragt, neue Konzepte zu entwickeln, sagt Maier – mit mehr Komfort und höherer Kapazität.
Zum anderen die zweite Herausforderung: Das Streckennetz ist komplexer als bei gewöhnlichen Verbindungen. Ist die Fahrt nämlich zu kurz, wacht man mitten in der Nacht auf und muss den Zug verlassen. Um Flüge auf beliebten Reiserouten zu ersetzen, müssen Nachtzüge also längere Strecken zurücklegen als gewöhnliche ICEs. Dabei konkurrieren sie nachts mit dem Güterverkehr, der die Hochgeschwindigkeitsstrecken belegt, morgens dann mit den Zügen für Pendler. Mit Landesgrenzen auf den Strecken wechseln Sprache und Personal und auch technisch unterscheiden sich die Anforderungen innerhalb der EU. Lange Strecken treiben den Preis für Nachtzüge außerdem nach oben. Anders als bei Flügen, bei denen Start und Landung die meisten Kosten verursachen, sind bei Zügen lange Fahrten deutlich teurer als kurze – die Kosten steigen nahezu linear mit der Entfernung. Laut einer Greenpeace Studie ist das Flugzeug auch deshalb im Moment auf 70 Prozent der beliebten Reiserouten in Europa günstiger als der Zug.
Wie wird der Nachtzug günstiger?
„Das aktuelle Nachtzugnetz ist nur eine Vorahnung von dem, was machbar wäre, wenn die Politik sich dafür stark machen würde”, erklärt Verkehrsforscher Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) in Berlin. Dafür müssten die Preise sinken. Wie könnte das gelingen?
Maier von Back on Track sieht mehrere Optionen, um die Kosten zu senken. Man könnte etwa das Tempo der Züge erhöhen. Klingt erstmal logisch: schnellere Züge schaffen in einer Fahrt größere Distanzen und könnten so mehr Fahrgäste von A nach B bringen. Technisch ist das machbar, wie die neuen Nightjets der ÖBB zeigen. Allerdings wären neue Züge erst in rund drei Jahren einsatzbereit und damit sie wirklich schneller führen, müssten auch die Trassen modernisiert werden, was noch länger dauern würde. Eine schnelle Lösung ist das also nicht.
Back on Track hat aber noch eine andere Idee: Bei den Trassengebühren anzusetzen. Das ist eine Art Maut, die Nachtzuganbieter zahlen, wenn sie auf deutschen Gleisen fahren. „Die Senkung der Trassengebühren ist ein einfaches und effektives Mittel, um Nachtzüge günstiger zu machen”, sagt Juri Maier. Laut Back on Track könnten die Preise im EU-Schnitt um 15 Prozent sinken – wenn man die Trassenpreise senken würde und die Mehrwertsteuer auf internationale Fahrten erließe, wie es bei Flügen der Fall ist. Ein Platz im Schlafwagen des ÖBB-Nachtzugs von Hamburg nach Zürich könnte dann beispielsweise von rund 135 Euro auf rund 115 Euro sinken.
Der Zeitpunkt dafür könnte nicht passender sein. Denn unser Schienennetz ist neuerdings gemeinwohlorientiert. Seit Anfang dieses Jahres soll die Betreiberfirma DB Infra GO nicht mehr nur Geld verdienen, sondern uns allen nutzen. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) erklärte dazu, „In Zukunft soll nicht mehr allein die Gewinnerzielung im Zentrum stehen.“ Es gehe genauso um Kapazität, Qualität und Kundenorientierung.
Was bringt das gemeinwohlorientierte Netz?
Die EU hat die hohen Trassenkosten schon 2021 als Hindernis erkannt. In Frankreich zahlen Nachtzüge mittlerweile deutlich weniger als andere Fernzüge, in Belgien werden die Trassengebühren für internationale Nachtzüge komplett vom Staat erstattet. Wie das in Deutschland aussehen könnte, hat Back on Track durchgerechnet. Demnach würde eine Gebühr von 1 Euro pro Kilometer die direkten Kosten der DB Infra Go decken. Bisher werden bei Nachtzügen 2,86 Euro pro Kilometer fällig. Die Betreibergesellschaft schlägt also fast 200 Prozent auf.
Könnte man hier nicht ordentlich sparen und den Nachtzug als Flug-Alternative attraktiver machen? Immerhin will die Bundesregierung den Personenverkehr auf der Schiene bis 2030 verdoppeln. Verkehrsforscher Andreas Knie meint, dafür sei man in Deutschland auf Nachtzüge angewiesen. Flip hat nachgefragt, was das gemeinwohlorientierte Netz bringt: Bei der Deutschen Bahn, die die Trassen betreibt und die Gebühren erhebt, bei der Bundesnetzagentur, die die Aufsicht darüber führt und beim Bundesverkehrsministerium (BMDV) von Volker Wissing.
Sie alle geben sich als Fans von Nachtzügen aus. Das BMDV arbeitet aktuell an einer Studie zum Potenzial für Nachtzüge, die prüfen soll, wie sinnvoll eine Trassenpreis-Förderung oder andere politische Unterstützungen sind. Bis Mitte des nächsten Jahres sollen die Ergebnisse vorliegen. Die Bundesnetzagentur erklärt, „günstigere Trassenentgelte (…) würden dabei sicherlich auch einen Beitrag zur Förderung nachhaltiger und umweltfreundlicher Mobilität leisten.” Und die Pressestelle der Deutschen Bahn, die auch für Fragen zum gemeinwohlorientierten Netz verantwortlich ist, schreibt, man unterstütze den umweltfreundlichen Nachtzugverkehr, „wo es nur geht”. Künftig soll der Nachttarif von 2,86 Euro deshalb für die ganze Strecke von Nachtzügen gelten – auch wenn Sie in den Tag hineinfahren.
Nur: Das alles klingt zwar nett, bringt aber de facto kaum Verbesserung. Auf Rückfrage, wieso man 2,86 Euro anstelle von 1 Euro pro Kilometer verlange, antwortet die Pressestelle der Deutschen Bahn ausweichend. Weitere Preissenkungen seien „nicht vorgesehen.” Was das konkret heißt, verrät man uns trotz mehrfacher Nachfrage nicht. Erst die Aufsichtsbehörde lüftet das Geheimnis: „Für das Segment Nachtverkehre hat die DB InfraGO AG Entgelte in Höhe von bis zu 3,32 EUR beantragt”, schreibt die Bundesnetzagentur. Über die Anträge werde dann im März 2024 entschieden. Es sei „von einem Anstieg der Trassenpreise, auch im Segment ‘Nacht’, auszugehen”. Grund dafür seien unter anderem Mehrkosten bei der DB InfraGO AG, die Trassenentgelte seien aber auch „durch die politischen Entscheidungsträger bestimmt”.
Die Maut für Nachtzüge wird also voraussichtlich steigen. Das ist das glatte Gegenteil dessen, was nötig wäre, um den Nachtzugverkehr zu fördern. Verkehrsforscher Andreas Knie überrascht das nicht: „Die Trassen als Gemeinwohl zu verkaufen ist pure Ablenkung. Die Betreibergesellschaft gehört zur Deutschen Bahn und kann dort nichts selbst entscheiden.”
Bleibt der Nachtzug in seiner Nische?
Ohne echten politischen Willen wird der Nachtzug kaum aus seiner Nische herauskommen. Mit dem Billigflieger könnte er nur mithalten, wenn die Verkehrspolitik die Folgekosten für Umwelt und Klima einbezieht. Laut Andreas Knie sei das schlicht eine Frage von Prioritäten. Schließlich gehöre die Deutsche Bahn dem Bund. Würde er eine umweltbewusste Klimapolitik anstoßen, wäre die Bahn gezwungen, sie umzusetzen. Er sagt: „Mit einem Schulterschluss aus Politik und Deutscher Bahn hätten wir in zwei bis drei Jahren ein funktionierendes Netz in Deutschland. Nachtzüge sind komplex, aber keine Raketenwissenschaft.”
Juri Maier ist da pessimistischer. Er glaubt nicht, dass sich die Situation der Nachtzüge bald verbessern wird. Einen Tipp für Nachzugfans hat er trotzdem: Die Strecke von Rom nach Sizilien.