Im vergangenen Jahr beschloss die Weltgemeinschaft einen historischen Pakt: Um das Artensterben aufzuhalten, soll ein Drittel der Meere geschützt werden. Formal macht Deutschland das schon. Tatsächlich aber existiert der Schutz meist nur auf dem Papier.
Vor 10.000 Jahren konnte man von Deutschland nach England laufen. Denn damals lag der Meeresspiegel etwa 130 Meter niedriger als heute und eine Landmasse verband uns mit Großbritannien. Mittlerweile ist daraus die größte Sandbank der Nordsee entstanden: die Doggerbank. Sie ist etwa so groß wie Sachsen und ein Paradies für Meeresbewohner. In den flachen Gewässern gibt es Korallen, Muscheln und Schnecken, Krebse krabbeln umher, Tintenfische und Schollen schwimmen vorbei und legen ihre Eier ab. Das wiederum lockt Seehunde und Kegelrobben an. Auch Schweinswale, Zwergwale und Delfine werden hier regelmäßig gesichtet. „Die Doggerbank ist das ökologische Herz der Nordsee”, sagt die niederländische Meeresbiologin Emilie Reuchlin. „Ohne solche Meeresökosysteme wäre das Leben auf der Erde undenkbar.”
Mittlerweile hat auch die Politik begriffen, wie wichtig die Meere sind, unter anderem für die Klimaregulierung. Sie will Gebiete wie die Doggerbank schützen. Dabei geht es ihr nicht nur um die Rettung von ein paar hübschen Meerestierchen, sondern um unser gesamtes Ökosystem, das durch menschliche Eingriffe mehr und mehr aus dem Gleichgewicht geraten ist. Die Folgen sind nicht zu übersehen: Rund eine Million Tiere und Pflanzen sind vom Aussterben bedroht. Expert:innen wie die Biologin und Autorin Frauke Fischer halten die Biodiversitätskrise sogar für gefährlicher als die Klimakrise. “Der Klimawandel”, so hat es Fischer formuliert, “entscheidet darüber, wie wir in Zukunft leben, der Verlust von Biodiversität darüber, ob wir überleben.”
Jahrelang haben hunderte Staaten deshalb über ein globales Abkommen verhandelt. Aktuell stehen nur 7,7 Prozent der Weltmeere und 16,2 Prozent der Landfläche unter Schutz. Vor einem Jahr, im November 2022, kam es im kanadischen Montreal zum Showdown: Zwei Wochen lang rangen die Landesvertreter:innen um eine Einigung. Dabei ging es um Naturschutz, aber auch um wirtschaftliche Interessen und viele Milliarden Euro. Mehrfach drohte der Gipfel am Geld zu scheitern – am letzten Tag gab es dann aber doch den Durchbruch. Bis 2030, so das zentrale Ergebnis, sollen 30 Prozent der Ökosysteme an Land und im Meer unter Schutz gestellt werden. Die chinesische Gipfel-Präsidentschaft sprach von einem “historischen Kompromiss”, Steffi Lemke, die Deutsche Umweltministerin (Grüne), von einem “Schutzschirm für unsere Lebensgrundlagen”. Die Staatengemeinschaft habe sich dafür entschieden, “das Artenaussterben endlich zu stoppen.”
So ein Schutzschirm ist eigentlich auch über der Doggerbank gespannt. Sie gehört gleich vier Staaten: Großbritannien, den Niederlanden, Dänemark und Deutschland. Nur Dänemark hat seinen Teil nicht als Schutzgebiet ausgewiesen, weil es dort Erdgasvorkommen ausbeuten will. Drei Viertel der Sandbank sind aber offiziell geschützt.
In der Praxis allerdings macht das kaum einen Unterschied. Noch immer fahren täglich Fischerboote mit Grundschleppnetzen durch das Schutzgebiet, um Schollen und Kabeljau zu fangen. Solche Schleppnetze gelten als besonders schädlich, weil sie alle möglichen Tiere fangen, verletzen oder töten, den Meeresboden aufwühlen und den Lebensraum von zum Beispiel Kaltwasserkorallen zerstören. Auch natürliche CO2-Speicher wie Seegraswiesen und Schlickböden werden von ihnen gestört. „Insbesondere bei einer Sandbank, wie der Doggerbank, wo das Bodenhabitat geschützt werden soll, ist das ein massiver Eingriff und sorgt für Zerstörung des Lebensraum”, erklärt Nadja Ziebarth, die beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) als Meeresschutzexpertin arbeitet.
Obwohl die Doggerbank also unter Schutz steht, wird sie weiter zerstört. Das ist kein Einzelfall. „Wirtschaftliche Nutzung findet weiterhin großflächig in den Schutzgebieten statt und gefährdet die Biodiversität”, sagt Carla Langsenkamp vom World Wide Fund For Nature (WWF). Dahinter steht ein systematisches Problem, das sogar einen eigenen Namen hat: “Paper Parks”. Das sind Gebiete – egal ob zu Wasser oder an Land –, die zwar auf dem Papier geschützt sind, in denen aber keine Maßnahmen umgesetzt werden, die diesen Schutz auch wirklich gewährleisten. Es ist vielleicht die größte Krux des historischen Abkommens von Montreal: Was bringt es, wenn die Staaten es formal erfüllen und immer mehr Schutzgebiete ausweisen, die Zerstörung in der Praxis aber einfach weitergeht?
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Das läuft schief im Schutzgebiet Doggerbank
Am Beispiel des deutschen Teil der Doggerbank lässt sich gut erklären, was derzeit schief läuft. Zunächst geht alles furchtbar langsam und bürokratisch voran. Schon 2004 hat das Bundesamt für Naturschutz (BfN) der EU vorgeschlagen, den deutschen Teil der Sandbank als sogenanntes Natura-2000-Schutzgebiet auszuweisen. So nennt man das EU-weite Netz von Schutzgebieten an Land und im Meer, das bis 2030 weiter ausgebaut werden soll. Von der EU als Schutzgebiet bestätigt wurde die Doggerbank drei Jahre später, also 2007. Erst 2020, also nochmal dreizehn Jahre danach, legte das BfN dann einen sogenannten Managementplan vor, also einen Maßnahmen-Katalog, mit dem die Doggerbank geschützt werden soll. Auf Nachfrage beim BfN, was davon umgesetzt wurde, antwortete das Amt, man habe “20 Maßnahmen mit abgestuften Prioritäten” festgelegt und treibe sie “mit unterschiedlicher Intensität” voran. Im Bereich “Lärmschutz” wird unter anderem eine Literaturstudie zu den Auswirkungen von Schiffslärm aufgeführt. Zudem sei die Stellnetzfischerei eingeschränkt worden, die im Vergleich zu Grundschleppnetzen aber weniger schädlich und verbreitet ist. Evaluiert werden sollen die Maßnahmen dann in noch einmal vier Jahren: 2026.
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